In der Corona-Krise beginnt an diesem Montag eine neue Phase: die der Lockerungen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hat dafür das Wort von der „neuen Normalität“ geprägt. Für die Gesellschaft könnte sie die größere Herausforderung als der Ausnahmezustand werden.


Über das Verhältnis von Wirklichkeit und Journalismus hat der Mainzer Publizistik-Wissenschaftler Nikolaus Jackob geforscht. In dem Zusammenhang ist er unter anderem der Frage nachgegangen, was von großen Skandalen bei den Menschen in Erinnerung geblieben ist. Ein spannendes Ergebnis davon: Ein Viertel der Befragten ist sich sicher, dass es der Stern war, der aufgeklärt hat, dass es sich bei den „Hitler Tagebüchern“, um eine Fälschung gehandelt hat.

Und das obwohl es zahllose Berichte darüber gegeben hat, wie der Stern auf einen Betrüger reingefallen ist und ihm für Millionen die von ihm gefälschten Tagebücher abgekauft hat. Obwohl es dazu zahllose TV-Dokumentationen gibt. Oder obwohl „Schtonk“ jedes Jahr fünf mal läuft.

Die Zahl sollte jedem Journalisten zu denken geben, der meint, richtig verstanden zu werden. Es sollte aber auch jeden Politiker skeptisch darüber stimmen, wie viel Details  komplizierter Gesetze wirklich bei den Menschen ankommen. Ein Viertel der Bevölkerung entsprechen über 20 Millionen Menschen.

Es war bisher härter, aber auch einfacher

Vier Wochen „Lockdown“ liegen hinter uns. Schon vor dessen Beginn hat diese Seite analysiert, dass es keinen totalen Lockdown geben kann. Dass Ernährung, Wasser- und Stromversorgung, Müllentsorgung oder medizinische Betreuung weiter gewährleistet werden müssen.

Die Kontaktsperre wurde unterschiedlich streng gehandhabt. Während im Saarland dreistellige Summen gezahlt werden mussten, wenn jemand keinen dringenden Grund hatte, unterwegs zu sein, durften die Rheinland-Pfälzer beliebig lang raus – so lange sie sich dort nicht zu Gruppen versammelten.

Was hinter den Menschen liegt, war härter, als das, was nun kommt. Aber es war auch einfacher. Einfacher zu handhaben, vor allem aber auch einfacher zu verstehen und zu akzeptieren: Ja, es trifft mich hart. Aber es trifft alle hart und es muss sein. Die Akzeptanz für die Maßnahmen war in Umfragen hoch, die Zahl der Verstöße blieb überschaubar. Wenn es zu Verstößen kam, ließen sich viele von ihrem Fehlverhalten überzeugen.

Nun wird es deutlich komplizierter: Mehr Geschäfte öffnen. Das heißt aber auch, mehr Menschen müssen wieder zur Arbeit. Mehr Kunden sind unterwegs. Busse und Bahnen werden wieder voller sein. Aber gleichzeitig bleibt die Kontaktsperre bestehen, gilt weiterhin ein Versammlungsverbot.



Widersprüche werden größer

Schon bisher gab es Klagen über absurde Situationen: Etwa dass ein Blumenladen schließen musste, Lebensmittelgroßhändler aber weiterhin Blumen verkaufen durften. Doch das ist nichts, gegen das, was jetzt kommt.

Zum Beispiel der digitale Krankenschein. Den hat die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens schon zum ersten Tag der Lockerungen aufgehoben. Ohne Not. Der Krankenstand war während des Lockdowns zurückgegangen.

Das kann im Saarland jetzt zu folgender Situation führen: Ein chronisch an Gicht Erkrankter muss zum Arzt humpeln, um sich dort – in der Regel ohne Behandlung – Krankenschein und Rezept abzuholen. Wenn er sich auf dem Rückweg vom Humpeln auf einer leeren Bank ausruht, droht ihm im Saarland eine Geldstrafe. Und das obwohl er zuvor im Wartezimmer mit schniefenden und niesenden Patienten zusammen gesessen hat. Den digitalen Krankenschein so früh wieder aufzuheben, war eine Fehlentscheidung.

Und doch ist der Gedanke der Bundesregierung und Länderchefs nachvollziehbar: Ein Land kann sich nicht permanent einsperren. Nicht mal für eine kurze Zeit, kann es vollständig ruhen. Nur bedingt lang kann es zu großen Teilen eine Auszeit nehmen. Wie lange es dauern wird, bis der Corona-Virus besiegt werden kann – in Form einer Behandlung oder präventiv – kann heute niemand sagen.

Ist es „jetzt auch mal gut mit Corona“?

Also neue Normalität. Geschäfte haben wieder offen. Schulen beginnen allmählich im Schichtbetrieb. Und Eisdielen dürfen ihr Außengeschäft wieder betreiben. Alles unter der Vorgabe, dass die Menschen Abstand halten sollen. Sie dürfen sich nicht zu dritt versammeln, aber mit 20 in einer Schlange stehen, wenn sie zwei Meter Abstand zueinander halten.

Wie schwer das sein wird, zeigt ein Bild, das in einem Mainzer Stadtteil am Sonntag vor dem Lockdown aufgenommen wurde. 30 bis 40 Leute stehen dort in einer Schlange. Vorne halten sich die Menschen noch pro forma an den Abstand, nach hinten raus drängelt sich ein Pulk zusammen. Sind die Leute nach vier Wochen Kontaktsperre sensibler? Halten sie jetzt freiwillig Abstand zueinander?

Entscheidend für die Antwort wird sein, inwiefern die neue Normalität eine andere Normalität sein wird: Haben die Menschen die Regeln verinnerlicht? Sind sie ihnen in Fleisch und Blut übergangen? Oder stellt sich nach ein Paar Tagen das Gefühl ein, dass „jetzt auch mal gut mit dem Corona“ ist und die Dinge halt weitergehen?

Eine Pflicht Masken zu tragen gibt es nicht. Nur ein Gebot. Aber wird das bei den Menschen ankommen? Es ist keine drei Wochen her, dass das Kanzlerkandidatenduo Jens Spahn und Armin Laschet davor gewarnt hat, dass Masken ein falsches Gefühl der Sicherheit vermittelten. Wer also jetzt keine tragen will, kann sich argumentativ auf den Bundesgesundheitsminister und den Chef des größten Bundeslandes berufen – keine schlechten Referenzen.



Maskenpflicht wäre auch ein Symbol gewesen

Über den medizinischen Nutzen der Masken gibt es in der Debatte graduell unterschiedliche Positionen. Sicher ist, sie verringern das Ansteckungsrisiko – aber sie fahren es nicht auf null runter. Doch über den medizinischen Nutzen hinaus hätten die Masken eine wichtige Symbolwirkung gehabt: In einem Land, in dem eine Mehrheit öffentlich einen Schutz im Gesicht trägt, kommt keiner auf die Idee, dass in der neuen Normalität alles in Ordnung ist.

Dass Spahn und Laschet den Nutzen der Masken in Frage gestellt haben, mag Unwissenheit gewesen sein. Schließlich hat das staatliche Robert-Koch-Institut damals noch die gleiche Position vertreten. Aber es hatte auch ein taktisches Kalkül. Es gibt immer noch nicht ausreichend Masken für alle. Vor drei Wochen gab es die erst recht nicht. In der Suche nach der politischen Verantwortung wäre das Bundesgesundheitsministerium keine ausschließlich absurde Adresse.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat in der gemeinsamen Pressekonferenz mit der Kanzlerin klar gestellt: Die Sache des Staates sei es, die Menschen im Gesundheitswesen mit zertifizierten Masken zu versorgen. Es wäre wünschenswert gewesen, er hätte klar ausgesprochen, statt es nur in den Raum zu stellen, dass es Privatsache ist, sich selbst um seine Masken zu kümmern.

Jeder kümmert sich um sich

Es ist auch so ein Ausdruck der neuen Normalität. Nämlich dass auch in Zeiten des Schutzes vor dem Virus als Grundsatz gilt: Der Staat sorgt für die Rahmenbedingungen und hilft in Notfällen, sein eigenes Glück regelt jeder selbst.

Zu den Rahmenbedingungen gehört aber auch, dass das Kontaktverbot weiter gilt. So lange das so ist, muss es auch durchgesetzt werden. Es ist verheerend für das Vertrauen in den Staat, wenn er seine Gesetze und Verordnungen nicht durchsetzen kann. Und es würde das Opfer der Gesetzestreuen ad absurdum führen, wenn eine Mehrheit wahllos Kontakt mit anderen aufnimmt und sich nur eine Minderheit an die Auflagen hält. Rein statistisch wäre schnell der Punkt erreicht, an der auch den Gesetzestreuen die Ansteckung droht.

An die Vernunft appellieren. Ja, das kann man. An die Regeln erinnern – das auch. Aber am Ende bleibt immer eine große Masse, die es falsch verstehen wird. Vielleicht wieder ein Viertel. Das wären dann 20 Millionen potentielle Virenherde.

Die Statistik zu den Hitler-Tagebüchern ist zitiert nach Nikolaus Jackob, „Gesehen, gelesen – geglaubt?“. Erschienen im Olzog-Verlag.