Beatmungsgeraet Notarzt 0
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BYC-News Notarzt Serie Teil 2 | Notärzte erleben tagtäglich Dinge, die andere Menschen niemals erleben. Von schönen Dingen bis hin zu schrecklichen Schicksalen oder kuriosen Einsätzen ist alles mit dabei. BYC-News sprach mit dem Notarzt aus Rüsselsheim, Dr. Thilo Hartmann darüber, welche Einsätze ihn besonders bewegten und wie er die Einsätze erlebt.

Als Notarzt muss man ruhig und besonnen bleiben

Wenn ein Notarzt seinen Dienst beginnt, weiß er nicht was ihn erwartet. Genau das ist es was Dr. Hartmann so an dem Beruf begeistert. „Viele Einsätze sind natürlich Routine. Aber es gibt immer wieder Dinge, die selbst ein erfahrener Notarzt noch nicht gesehen hat“, erklärt er. „Viele denken bei schweren Verletzungen oder Unfällen immer als erstes „Oh

Gott wie schrecklich“. Das ist bei Notärzten eher selten der Fall. Wenn eine solche Einsatzmeldung auf meinem Display erscheint, frage ich mich auch nach 30 Jahren Erfahrung noch immer als erstes, ob ich es hinbekomme, die Situation zu händeln“, erzählt Hartmann. Die Schrecklichkeit der Situation blende man immer erstmal aus, zumindest bis nach dem Einsatz. Das sei als Notarzt auch wichtig, denn egal welche Tragödie sich gerade abspielt, schließlich zählt, dass man funktioniert und dafür muss man ruhig bleiben. Ein panischer nervöser Notarzt wirke sich auch immer negativ auf die anderen Einsatzkräfte aus.

Notarzt Dr. Thilo Hartmann aus Rüsselsheim | Foto: BYC-News | Chiara Forg

Dr. Hartmann gibt ein Beispiel:

„Vor einigen Wochen wurde ich zu einem schweren Unfall auf einer Landstraße alarmiert. Eine Frau war in ihrem Fahrzeug eingeklemmt und als ich ankam, saß bereits ein Notfallsanitäter bei ihr im Wagen. Er hat den Platz dann für mich frei gemacht und ich habe recht schnell gemerkt, dass die Frau sehr schwer verletzt ist. Das haben natürlich auch die Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehr mitbekommen, die bereits dabei waren das Fahrzeug aufzuschneiden, um die Frau zu befreien. Das hat allerdings nicht wirklich geklappt und die Feuerwehrleute wurden zusehends nervöser. Schließlich haben sie dann die Strategie geändert und versucht, das Dach abzutrennen, aber auch das hat recht lange gedauert. In der Zwischenzeit habe ich die Verletzte im Auto weiter versorgt, habe aber auch gemerkt, dass die Stimmung gerade zu kippen droht. Das ist an Einsatzstellen natürlich nicht gut, weshalb ich versuchte, die Stimmung etwas zu lockern. Als das Autodach dann schließlich ab war, habe ich die Einsatzkräfte angeschaut und ihnen gesagt, dass das natürlich so auch nicht gehe, weil es mittlerweile angefangen hat zu regnen, und ich ohne Dach nass werde. Dann war kurz Stille, die Einsatzkräfte haben alle geschmunzelt und die Anspannung hat sich etwas gelockert, sodass es dann zielgerichtet weitergehen konnte. Da wurde mir mal wieder bewusst, wie wichtig es ist in solchen Situationen ruhig und besonnen zu bleiben und nicht die Nerven zu verlieren“

Erlebnisse, die einen nicht mehr loslassen

Manche Einsätze gehen auch Dr. Thilo Hartmann nahe. Zwar werde es mit den Jahren irgendwann zur Routine, schwerstverletzte Menschen zu sehen, aber kalt lasse ihn das trotz allem natürlich nicht. „Ich beruhige mich dann immer damit, dass ich mir selbst immer wieder ins Gedächtnis rufe, dass dieser Unfall sowieso passiert wäre und ich daran nichts hätte ändern können. Aber dass ich nun mal heute Dienst habe und es deshalb meine Aufgabe ist, dem Patienten zu helfen und es wieder besser zu machen. Wenn man dann am Ende weiß, dass man mit seinem Team dem Patient hat helfen können, dann macht einen das natürlich stolz. Daraus schöpft man viel Kraft für alles was dann noch so kommt“, erklärt Dr. Hartmann. Aber es gibt immer wieder Fälle, die einem unter die Haut gehen. Meist seien es auch nicht die schrecklichen Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrennen sondern eher besondere Umstände. Auch hier erzählt Dr. Hartmann von einem Einsatz, der ihn lange sehr bewegt hat:

„Vor drei oder vier Jahren wurde ich von einer Kollegin gerufen. Sie sagte mir, dass sie bei einem 4-jährigen leblosen Jungen sei, der wiederbelebt werden musste. Der Kollegin gelang es nicht, den Beatmungsschlauch einzuführen, das ist bei Kindern etwas schwieriger. Weil ich als Anästhesist schon viele Kinder narkotisiert und den Beatmungsschlauch eingeführt habe, bat sie mich um Hilfe. Als ich vor Ort ankam, um sie zu unterstützen, habe ich zuerst den hellblonden kleinen Jungen gesehen. Ich habe dann den Beatmungsschlauch eingesetzt und mit fielen sehr viele blaue Flecken an dem kleinen Patienten auf. Uns hatte man vor Ort gesagt, dass diese von einem Sturz von der Couch kamen, was allerdings nicht mit der Art der Hämatome zusammenpasste. Diese wiesen viel eher auf Misshandlung hin. Der Junge konnte zunächst widerbelebt werden und kam in eine Klinik, wo er aber einen Tag später verstarb. Es wurde dann im Anschluss wegen Mordes gegen den neuen Lebensgefährten der Kindesmutter ermittelt und schließlich vor dem Gericht verhandelt. Bei der Verhandlung war ich als gutachterlicher Zeuge geladen und musste das Ganze nochmal erzählen und habe mir dabei auch die Bilder der gerichtsmedizinischen Untersuchung angeschaut. Die Bilder habe ich bis heute noch vor dem geistigen Auge. Ich habe selbst eine kleine Tochter, die auch blond ist. Sowas bezieht man dann auch mal auf das eigene Leben und überlegt sich wie das wäre, wenn der eigenen Tochter etwas Schlimmes widerfahren würde. Natürlich nicht im Bezug auf die Misshandlung. Aber generell kann man sagen, dass Parallelen zum eigenen Privatleben, wie in diesem Fall das Alter und die Haarfarbe dafür sorgen, dass einem so etwas nah geht“

Auch Notärzte sind natürlich nicht dagegen gefeit, Dinge zu erleben, die sie später nicht verarbeiten können. Deshalb gibt es natürlich auch ein Krisenteam, dass allen Rettungskräften für Gespräche zur Verfügung steht. Doch eigentlich müsse ein solches Team aus anderen Notärzten bestehen, denn nur Retter können Retter verstehen, berichtet Dr. Hartmann. Die Gedankengänge und der Fokus sei doch ein anderer als beispielsweise bei Psychologen.

Das andere Extrem

Ein anderes Extrem sei beispielsweise die Hilfe bei einer Geburt. „Das stresst einen zwar extrem, da man das nicht so oft macht wie beispielsweise einen schwerverletzten Motorradfahrer zu behandeln. Aber wenn das Kind dann geboren ist, ist das einfach ein wahnsinnig schönes Gefühl zu wissen, dass man dabei geholfen hat. An solchen Dingen kann man sich auch ein Stückweit entlanghangeln, wenn man schlimme Dinge erlebt. Das ist halt der Beruf eines Notarztes. Es kann sein, dass ein Unfallopfer stirbt und man nur wenige Stunden später bei der Geburt eines Kindes hilft.“, berichtet Dr. Hartmann.

Die Arbeit wird mehr – Die Zahl der Schwerverletzten nicht

Die Arbeit eines Notarzt habe sich in den vergangenen Jahren verändert, berichtet Dr. Hartmann. Es seien wesentlich mehr Einsatze zu fahren, als noch vor einigen Jahren. Im Jahr 2002, als er damit begann, Notarztwagen zu fahren, waren es im Schnitt 4,5 Einsätze in 24 Stunden. Aktuell seien es rund 11 Einsätze in 24 Stunden. Das Kuriose: Die Zahl der Patienten, die wirklich die Hilfe eines Notarztes benötigt haben, blieb gleich. „So gesehen müssen wir also wesentlich mehr Einsätze fahren, um die gleiche Anzahl an schwerkranken Patienten zu sehen„, erklärt Hartmann.

„Wir haben im Jahr 2010 mal eine Statistik gemacht, wie oft wir mit der Meldung „Verdacht auf Herzinfarkt“ raus gefahren sind und wie viele tatsächlich einen Herzinfarkt hatten. Das gleiche haben wir 2020 nochmal gemacht. Die Zahl der Patienten mit einem Tatsächlichen Herzinfarkt, hat sich kaum verändert. Im Jahr 2020 waren es nur rund 10 Patienten mehr als im Jahr 2010. Die Einsatzmeldung „Verdacht auf Herzinfarkt“ hat sich jedoch verdreifacht“, berichtet der Notarzt weiter.

Die Menschen werden unselbstständiger

Auf die Frage hin, weshalb das seiner Meinung nach so ist, erklärt er: „Ich habe das Gefühl als wären die Menschen immer weniger in der Lage, Probleme, die sich ihnen stellen, selbstständig zu lösen. Als wären die Menschen immer mehr darauf aus, dass alles von anderen geregelt werden muss“ Früher habe man eine Schmerztablette genommen, wenn man in der Nacht Rückenschmerzen hatte und sei dann morgens zum Hausarzt gefahren. Heute werde da eher schon mal der Notruf gewählt. Wenn die Leitstelle dann natürlich einen Anruf bekommt und der Patient klagt über Rückenschmerzen, die bis in die Brust ziehen, kommt natürlich der Verdacht Herzinfarkt auf. Erschwerend hinzu komme die Tatsache, dass Feuerwehrkräfte mit meist nur wenig medizinischem Wissen in der Leitstelle sitzen und keine Ärzte. Im Zweifel ob es beispielsweise Rückenschmerzen oder doch ein Herzinfarkt ist, wird also auch dort lieber mal ein Rettungswagen oder einen Notarzt hin zu schicken. In einigen Fällen wird in jedem Fall ein Notarzt mit zur Einsatzstelle geschickt. Dies ist beispielsweise bei akuten Atemproblemen, Bewusstlosigkeit, Herzinfarkten, großen Knochenbrüchen, dem Sturz aus großen Höhen oder bei schweren Verkehrsunfällen der Fall. Aber auch hier gibt es Einsätze, die sich im Nachhinein als nicht so schlimm herausstellen, wie anfangs vermutet.

Ein weiterer Grund seien verbesserungsbedürftige Strukturen. Das Rettungssystem in Deutschland sei zwar eines der besten weltweit aber was die Versorgung von Kranken in der Nacht oder am Wochenende angehe, die nicht gleich einen Notarztwagen mit Blaulicht benötigen, gebe es Verbesserungsbedarf. „Ein Patient mit Fieber und Durchfall beispielsweise hat zwar ein medizinisches Problem, ist aber eigentlich kein Fall für den Notarzt. Oder, wenn ein Patient in der Nacht Schmerztabletten benötigt, ist der erste Gang meist der ins Krankenhaus, weil es nur sehr wenige Bereitschaftsdienste gibt. Gerade was solche Fälle angeht, macht die Kassenärztliche Vereinigung keinen wirklich guten Job“; kritisiert Dr. Hartmann.

Gewalt gegen Einsatzkräfte

Auch wenn die Gewalt gegen Einsatzkräfte glücklicherweise noch kein tägliches Brot ist, nimmt sie deutlich zu. Dr. Hartmann erinnert sich, dass die Menschen zu seiner Anfangszeit vor über 30 Jahren immer dankbar waren, wenn der Notarzt kam und ihnen geholfen hat. Heutzutage sei das anders, berichtet er. Nicht selten werde man schon mit einem bösen Gesicht empfangen, weil man länger als fünf Minuten zum Patienten gebraucht hat. Man komme sich heute immer öfter vor wie ein Dienstleister und nicht mehr wie ein Notarzt. Nicht selten erkläre er den Patienten oder Angehörigen, was seine Aufgabe als Notarzt ist und was eben nicht. So kommt es auch immer häufiger vor, dass die Stimmung kippt und Einsatzkräfte tätlich angegriffen werden.

Dr. Hartmann hat im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, dass das auch eine Frage der Herkunft und des sozialen Status ist. „Wenn wir in Bad Soden im Villenviertel unterwegs sind, haben wir sogut wie nie ein Problem mit körperlicher Gewalt gegen uns. In einem Wohnblock im  sozialen Brennpunkt ist das jedoch anders. Je niedriger die Bildung und der soziale Status ist, umso schneller sind dann auch mal Worte und Argumente aufgebraucht, und es geht dann mit Fäusten weiter. Gerade, wenn dann auch noch Alkohol im Spiel ist, ist die Hemmschwelle manchmal erschreckend niedrig. Das erleben wir regelmäßig, im Schnitt würde ich sagen ein mal pro Monat“, sagt Hartmann. Er selbst wurde im Einsatz auch schon des Öfteren angegriffen, glücklicherweise aber noch nicht schlimmer verletzt.

Sollte sich bereits vorher abzeichnen, dass die Stimmung kippt und einige Personen aggressiv werden, können die Rettungskräfte natürlich die Polizei rufen. Wenn sie dazu nicht die Zeit haben und unvermittelt angegriffen werden, wird der Einsatz abgebrochen und die Retter verlassen die Einsatzstelle. „Grundsätzlich kommt es aber häufiger vor, dass Rettungssanitäter angegriffen werden als bei Notärzten. Da scheint die Hemmung dann doch etwas höher zu sein“, sagt Dr. Hartmann.

„Jeder ist seines Glückes Schmied“

Wenn Patienten den Rat des Notarztes nicht annehmen oder ihn angreifen, sodass er den Einsatz abbrechen muss, dann hat ihn das früher belastet. Er fragte sich dann, ob er etwas hätte anders machen und vielleicht die Bedrohlichkeit der Situation für den Patienten deutlicher zum Ausdruck bringen können. „In der Zwischenzeit sage ich mit einfach immer, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Wer sich nicht helfen lassen möchte oder wenn Angehörige durch Gewalt verhindern, dass ich dem Patienten helfen kann, dann ist das so. Ich drücke mich sehr deutlich aus aber wenn das Gesagte verstanden aber ignoriert wird, dann kann ich es auch nicht ändern. Heute belastet mich die Uneinsichtigkeit anderer nicht mehr, denn es hat jeder das Recht auf seine eigene Unvernunft“, sagt Dr. Hartmann.

Weitere Teile der BYC-News Notarzt Serie

BYC-News hat in dem Interview mit Thilo Hartmann noch über weitere Themen gesprochen, welche die Arbeit eines Notarztes betreffen.

Teil 1: Notarzt Spezial: „Ich kann schnell viel für einen Patienten tun“
Teil 2: Notarzt Spezial: Einsätze die man als Retter nicht vergisst
Teil 3: Notarzt Spezial: „Viele meiner Corona-Patienten waren in einem erbärmlichen Zustand“
Teil 4: Notarzt Spezial: Welche Ausrüstung befindet sich im Notarztfahrzeug?