Die Mainzer Baustellen muss man mit Humor nehmen, anders hält man es nicht aus – Die Stadt der Baustellen erfindet den Tourismus neu: Ab sofort können Besucher auf geführten Touren die schönsten Absperrungen, tiefsten Schlaglöcher und imposantesten Bauzäune der Landeshauptstadt Mainz bestaunen.
Bagger, Beton, Baustellenromantik
„Mainz wird gebaut!“ – was für viele Mainzer bislang eher wie eine Drohung klang, ist jetzt endlich offizielles Tourismuskonzept. Der neue Slogan „Wo andere Städte fertig sind, fangen wir erst an“ ist dabei nicht nur selbstironisch gemeint, sondern bitter ernst. Die Stadt hat erkannt: Während andere Kommunen mit barocken Kirchen oder mittelalterlichen Marktplätzen glänzen, hat Mainz eine andere Attraktion – eine unerschöpfliche Menge an Baustellen.
„Wir wollten das Unvermeidbare ins Positive drehen“, sagt die Mainzer Tourismusdezernentin. „Unsere Bauprojekte dauern ohnehin Jahrzehnte. Warum sollten wir sie nicht vermarkten, solange sie da sind?“ In Zusammenarbeit mit dem Stadtmarketing wurden drei verschiedene Tourenpakete entwickelt – darunter auch eine „Express-Baustellentour“ durch 17 Großbaustellen in nur 90 Minuten. Möglich wird das durch ein eigens eingerichtetes Baustellen-Umleitungssystem, das zwar niemandem den Weg erleichtert, aber immerhin zu neuen Perspektiven auf Sandberge und Frischbeton führt.
Baustellenkunst und kreative Umleitungen
Neben der reinen „Bagger-Beobachtung“ können Besucher sich auch an der neu entstehenden Baustellenkunst erfreuen. Denn so mancher abgesperrte Gehweg oder verwaiste Parkplatz wird mittlerweile liebevoll von Graffiti-Künstlern in Szene gesetzt – natürlich alles offiziell genehmigt, solange das „Kein Durchgang“-Schild im Vordergrund bleibt. Eine Art urbanes Freiluftmuseum, das den Charme des Unfertigen zelebriert.
Besonders beliebt bei Touristen sind auch die kreativen Umleitungen, die jeden Tag anders verlaufen. „Unsere Umleitungspläne sind quasi ein Glücksspiel“, sagt Baustellen-Guide Kevin Mörtel. „Man weiß nie, ob man heute rechts oder links an der dritten Baustelle vorbei kommt – oder doch durch den Privatgarten.“ Wer bei der Tour Glück hat, erlebt eine unerwartete Stadtexpedition, die selbst ortskundige Mainzer vor Rätsel stellt.
Die „Entschleunigung“ als neues Tourismus-Konzept
In Zeiten, in denen sich alles immer schneller dreht, setzt Mainz bewusst auf Entschleunigung – zumindest für den Verkehr. Besucher können live miterleben, wie sich eine eigentlich kurze Strecke innerhalb von zwei Stunden in eine epische Reise verwandelt. Wer das langsame Vorankommen als Meditationsübung sieht, ist hier genau richtig.
Und für alle, die trotz Stau und Umleitungen das Gefühl vermissen, etwas erreicht zu haben, gibt es am Ende jeder Tour ein kleines Zertifikat: „Ich habe Mainz’ Baustellen überlebt.“ Dieses Souvenir sorgt für Stolz, Anerkennung und natürlich eine Menge Gesprächsstoff zu Hause.
Tourismus neu gedacht – oder einfach nur ehrlich?
Der Tourismusverband „Mainzer Baustellen“ ist begeistert. „Das ist der erste Schritt zu einem neuen Selbstverständnis“, sagt Geschäftsführer Clemens Stolper. „Andere Städte kaschieren ihre Baustellen. Wir präsentieren sie stolz – wie eine Ausstellung im öffentlichen Raum.“ Und die Zahlen geben ihm recht: Bereits am ersten Wochenende verzeichnete die Stadt über 1.000 Buchungen, darunter Reisegruppen aus Skandinavien, Großbritannien und sogar Japan. Dort gelten deutsche Baustellen mittlerweile als meditatives Symbol für ewigen Fortschritt ohne Ziel.
Ein weiteres Tour-Angebot ist bereits in Planung: die „Premium-Premium-Tour“, bei der Touristen vier Stunden lang in einer abgesperrten Sackgasse stehen dürfen – ohne WLAN, ohne Sitzmöglichkeit, aber mit originalem Baucontainer-Duft und Live-Kulisse aus wartenden Handwerkern.
Kritik aus der Bevölkerung – aber auch Stolz
Natürlich gibt es auch kritische Stimmen. Viele Anwohner fühlen sich durch die neue Attraktion zusätzlich belastet. „Jetzt stehen da nicht nur Bauarbeiter rum, sondern auch Leute mit Selfie-Sticks“, klagt Beate K., 63, aus der Altstadt. Ihr täglicher Weg zur Bäckerei hat sich seit der Einführung der Tour um 17 Minuten verlängert – „und das nur, weil eine französische Reisegruppe unbedingt den originalen Sandhaufen am Münsterplatz fotografieren musste.“
Trotz allem lässt sich ein gewisser Lokalstolz nicht leugnen. „Wenn wir schon nicht vorankommen, dann wenigstens mit Humor“, meint der 38-jährige Taxifahrer Ralf B., der nun seine Stadtführungen auf „Baustellen-Kommentierung“ umgestellt hat. Seine Lieblingstour? „Die Route der 37 Umleitungen“.
Mit der Baustellen-Sightseeing-Tour beweist Mainz Humor, Innovationsgeist und eine gewisse Resignation – alles Eigenschaften, die das städtische Lebensgefühl treffend beschreiben. Was andernorts als planerisches Desaster gilt, wird hier zur Erlebniswelt umgedeutet. Oder wie Oberbürgermeister Nino Sorglos es ausdrückt:
„Mainz ist niemals fertig – aber immer einen Besuch wert.“
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Wenn Mainz etwas kann, dann das: sich selbst nicht zu ernst nehmen – und dabei sehr ernsthaft nichts fertig bekommen.
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