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Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB hat selbst ein Opfer gebracht und verzichtet zum ersten mal seit dem Krieg auf die Kundgebungen am 1. Mai. Während und nach der Corona-Krise gelte es, die Rechte der Arbeitnehmer zu stärken, sagt Dietmar Muscheid im Gespräch mit Boostyourcity. Der Vorsitzende des DGB-Bezirks Rheinland-Pfalz/Saarland fordert unter anderem mehr Gehalt für Pfleger und Verkäufer. Zum ersten Mal seit dem Krieg wird es in diesem Jahr keine Maikundgebung geben, Herr Muscheid. Wie bitter ist das für den Gewerkschaftsbund DGB?Das ist sehr bitter. Es war auch keine leichte Entscheidung. Denn neben der langen Tradition dieses Feiertages geht es am 1.Mai darum, Themen zu setzen, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wichtig sind. Aber es ist die richtige Entscheidung. In diesen Zeiten muss jeder seinen Beitrag leisten, um die Krise in den Griff zu kriegen. Deshalb bedeutet Solidarität in diesem Jahr Abstand halten.Warum war die Absage so früh notwendig. Ist der organisatorische Vorlauf so groß?Das ist das eine. Das andere ist es, ein Signal zu setzen: Dafür mit der Situation verantwortungsvoll umzugehen. Dazu gehört, dass Großveranstaltungen auf ungewisse Zeit nicht durchgeführt werden sollen.Sind denn Arbeitnehmer-Belange auch ohne Maikundgebung auf der politischen Agenda?Wichtig sind momentan zwei Dinge: Diejenigen vor der Arbeitslosigkeit zu schützen, die jetzt nicht arbeiten oder nur eingeschränkt arbeiten können und die Gesundheit derjenigen zu schützen, die das Land am Laufen halten. Das beginnt bei dem Austeilen von Masken. In Bezug auf den Schutz der Beschäftigten müssen wir alles tun, was notwendig ist. Und das ist einiges.Zum Beispiel?Wir müssen die Abläufe im Betrieb so organisieren, dass auch dort möglich ist, was draußen verlangt wird: Abstand halten.

Keinen in die falschen Jobs drängen

Für Unternehmen gibt es Kredite. Ist das auch im Sinn der Arbeitnehmer?Alles was Unternehmen hilft, soll, muss und wird dazu führen, Arbeitsplätze zu erhalten. Daher ist es richtig, Unternehmen unbürokratisch und schnell zu helfen.Die Krise wird auch zum Verlust von Arbeitsplätzen führen. Inwiefern kann der Staat Arbeitnehmer da schützen?Es gibt eine breite Palette unterschiedlicher Auswirkungen. Zum einen existenzielle: Im Hotel- und Gaststättenbereich geht es ums Überleben. Da müssen wir sofort helfen. Dann gibt es andere Bereiche, in denen man schauen muss, wie sich der Markt entwickelt und es nach der Krise weiterläuft.Wir stehen erst am Anfang der Entwicklung. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit droht trotz Hilfen für die Wirtschaft. Inwiefern müssen da die Leistungen für Arbeitslose überdacht werden?Das müssen wir uns genau anschauen. Sicher ist: Die Leistungen der Bundesagentur für Arbeit müssen höher werden. Das gilt zum einen für die Höhe und zum anderen für die Bezugsdauer. Das Nächste ist der Umgang mit den Vermittlungsvoraussetzungen. Da müssen wir darauf drängen, dass vernünftig mit den Menschen umgegangen wird. Sonst müssen Menschen, die gestern noch hochqualifizierte Facharbeiter waren, einen Job annehmen, der weder ihrem Profil noch ihrem Lebensstandard entspricht. Wir müssen jetzt organisieren, dass es für möglichst alle nach der Krise vernünftig weitergeht.

Höheres Kurzarbeitergeld gefordert

In dem Zusammenhang fordern Sie als Gewerkschaftsbund, das Kurzarbeitergeld zu erhöhen. Inwiefern ist das hilfreich?Wer Kurzarbeitergeld erhält, muss mit 60 Prozent vom letzten Nettolohn leben. Das ist ein zu krasser Unterschied. Wer kann dann noch seine Miete und seine Lebenshaltungskosten finanzieren? Daher wären mindestens 80 Prozent richtig. Die Arbeitgeber profitieren davon, dass die Beiträge zur Sozialversicherung komplett wegfallen – also müssen auch im Gegenzug die Arbeitnehmer profitieren.Davon abgesehen würde der Schritt auch die allgemeine Kaufkraft erhalten.Zuerst geht es darum, dass Menschen ihr Leben finanzieren müssen. Das ist von 60 Prozent nicht möglich und der Erhalt der Kaufkraft ist dann gesamtwirtschaftlich auch ein wichtiger Aspekt.Der Begriff „systemrelevant“ ist zu einem der Schlagwörter der Corona-Krise geworden. Er kennzeichnet Arbeit, die als unverzichtbar gilt. Das ist eine Wertschätzung, die wir vor der Krise nicht hatten. Der Wert der Arbeit war in den vergangenen Jahren nicht gerade ein beliebtes Thema in der öffentlichen Diskussion. Wird sich das jetzt ändern?Wir loben derzeit sehr stark die Menschen im medizinischen Bereich. Wir loben sehr stark, die Menschen im Handel. Diese Wertschätzung ist mehr als angebracht angesichts dessen, was die Menschen dort in der Krise leisten. Aber diese Wertschätzung muss sich auch nach der Krise auswirken: Das betrifft Löhne und Arbeitsbedingungen. In beiden Punkten leben die Menschen im Handel und im medizinischen Bereich nicht auf der Sonnenseite des Arbeitslebens. Aber neben der Frage, ob Arbeit wieder wertgeschätzt wird, geht es auch um andere Fragen: Etwa ob es richtig war, das Gesundheitswesen privatwirtschaftlich zu organisieren. Auch das muss neu diskutiert werden. Die Krise zeigt, dass das Gesundheitswesen alles andere als Privatsache ist.