Pflege, Rollstuhl, Quelle: unsplash.com

Baustellen gibt es in der Politik genug. Zwar ist es angesichts der politischen und ökonomischen Gesamtsituation unklar, woher für die nötigen Reformen das nötige Geld kommen soll, zumal der langfristige Trend höchstes Alarmpotenzial in sich birgt. Die lange Zeit verschleppte Digitalisierung, der zunehmende bürokratische Wust und die explodierenden Energiepreise sind nur einige Brennpunkte von vielen, die schwer zu löschen sind.

Hinzu kommt eine weltpolitische Lage, bei der alles auf einen eskalierenden Gesamtkonflikt zusteuert und die auch die Gesellschaften in der westlichen Welt zunehmend in Mitleidenschaft zieht. Auch das dafür untrügliche Indiz einer „großen Gereiztheit“, das Thomas Mann unnachahmlich in seinem Roman „Der Zauberberg“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs in den Rang eines literarischen Topos überführt hat, lässt sich bereits an allen Ecken und Enden bemerken.

Doch dass Baustellen angegangen werden müssen, sollte jenseits aller Debatten stehen. Die Reformen sind gesetzt und haben Auswirkungen auf den Geldbeutel von Arbeitnehmern. Welche Auswirkungen dies genau sind und ob die Reform ausreichen wird, den Pflegenotstand zu überwinden, darum geht es in diesem Artikel.

Wer profitiert – wer zahlt drauf?

Bei der Reform, die ab dem 1. Juli 2023 in Kraft getreten ist, handelt es sich um die Pflegereform. Das Vorhaben hat zur Folge, dass weniger Geld für Millionen Deutsche nach Abzug der Steuern auf dem Konto verbleibt. Allerdings gibt es auch Gewinner, die von der Reform profitieren werden. Der Status der Arbeitnehmer in Bezug auf ihre Lebensverhältnisse und die Anzahl an Kindern hat erhebliche Auswirkungen auf die finanziellen Veränderungen, die für den Beitragszahler mit der Reform einhergehen.

Hintergründe zur Pflegeversicherung

Die Pflegeversicherung gibt es erst seit 1992. Sie wurde unter der schwarz-gelben Bundesregierung unter Helmut Kohl eingeführt und war ein Herzensprojekt von Sozialminister Norbert Blüm. Etabliert wurde sie als fünfte Säule neben der Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Krankenversicherung. Sie diente dem Ziel, die Gemeinden zu entlasten, die in einer Zeit, in der die Kosten für die Wiedervereinigung beträchtliches Kapital verschlangen, mit der Versorgung pflegebedürftiger Menschen kaum noch hinterherkamen.

Die Folgen einer alternden Gesellschaft waren ebenfalls ein Grund für diese wegweisende Reform, die zeigte, dass nicht alles in der Ära Kohl in den 1990er Jahren unter das Verdikt eines Reformstaus subsumiert werden kann.

Eine alternde Gesellschaft benötigt mehr Geld für das Pflegesystem

In einer alternden Gesellschaft müssen proportional immer weniger Beschäftigte immer mehr Menschen im nicht mehr erwerbsfähigen Alter unterstützen. Je älter Menschen werden, desto größer wird die Gefahr einer Pflegebedürftigkeit, die in Deutschland in fünf Pflegestufen gemessen wird. Dies führt dazu, dass das Pflegesystem nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Belastungen für die Beitragszahler in der Pflegefinanzierung tendenziell zunehmen. Diesen Zweck erfüllt die Pflegereform, die seit dem 1. Juli 2023 gültig ist.

Warum Familien entlastet werden

Die andere Absicht der Pflegereform ist eng in das Bestreben politischer Akteure in Deutschland eingebunden, die Fertilitätsrate in der Bevölkerung dauerhaft zu erhöhen. Der Paradigmenwechsel in der Familienpolitik begann mit den Auswirkungen der Wiedervereinigung und dem damit einhergehenden Einbruch der Kinderzahlen in Ostdeutschland. Die Kinderquote in den neuen Bundesländern brach Anfang der 1990er Jahre auf unter 0,8 ein und sank im Vergleich zu den letzten Jahren der DDR um gut die Hälfte.

Dies trug dazu bei, den Schnitt bei den Kinderzahlen in Deutschland auf den historischen Tiefstwert von 1,3 Kindern zu senken, was während der Amtszeit von Helmut Kohl als ernstes Warnsignal wahrgenommen wurde, das die Bundesregierung zu Veränderungen zwang.

Seitdem haben alle Bundesregierungen viel für die Entlastung von Familien getan und Maßnahmen umgesetzt, mit denen Anreize geschaffen wurden, um Kinder in die Welt zu setzen. Im Zuge dieser Maßnahmen erhöhte sich die Fertilitätsrate in Deutschland auf 1,6 Kinder, was allerdings weiterhin zu wenig ist, um die Bevölkerungszahlen (den Einfluss von Zu- und Abwanderung nicht mitgerechnet) langfristig stabil zu halten. Für dieses Ziel ist eine Kinderzahl von 2,07 pro Haushalt der Referenzwert.

Erschwerend kommt hinzu, dass es mit Beginn der 2020er Jahre bei der Fertilitätsrate in Deutschland zu einem leichten Knick kam, was allerdings kein allein auf Deutschland beschränktes Phänomen ist. Tatsächlich sind – ein weiterer Hinweis auf die brisante weltpolitische Lage – auf der ganzen Welt verheerende Einbrüche bei den Geburtenzahlen zu beobachten. Rina Goldenberg von der Deutschen Welle fasst das Problem zusammen: „In Krisenzeiten sind immer Geburtenrückgänge zu verzeichnen“.

Ziele der Pflegereform

Kinderlose werden zur Kasse gebeten

Dass kinderlose Arbeitnehmer einen höheren Anteil für die Unterstützung pflegebedürftiger Personen zu stemmen haben, war von Anfang an Teil der Reform des Pflegegesetzes. Jedoch kippte das Bundesverfassungsgericht die ursprüngliche Fassung des gesetzlichen Vorhabens, weil die Benachteiligung kinderloser Beschäftigter mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. Das neue Gesetz hat an diesem Umstand nichts Wesentliches geändert.

Dennoch ist die Novellierung nun nuancierter und macht die Höhe der zu leistenden Pflegebeträge nicht ausschließlich daran fest, ob der Arbeitnehmer kinderlos ist oder nicht, sondern berücksichtigt bei der Beitragsbemessung auch die Anzahl der Kinder. Aus dieser ergibt sich fortan die Höhe der Beiträge. Die Beiträge von Arbeitnehmern kommen in Abhängigkeit zur Kinderzahl auf die folgenden Werte:

  • kinderlos: 4 % statt 3,4 %
  • ein Kind: 3,4 % statt 3,05 %
  • zwei Kinder: 3,15 % statt 3,05 %
  • drei Kinder: 2,9 % statt 3,05 %
  • vier Kinder: 2,65 % statt 3,05 %
  • fünf Kinder: 2,4 % statt 3,05 %

Die paritätische Aufteilung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entfällt. Arbeitgeber müssen in Zukunft pauschal einen Betrag von 1,7 Prozent entrichten, den Arbeitnehmer vom auf der Liste ermittelten Wert abziehen können.

Ausnahme Sachsen

Eine Ausnahme stellt der Freistaat Sachsen dar. Die Abhängigkeit von der Anzahl an Kindern gilt für sächsische Arbeitnehmer bei der Pflegefinanzierung zwar genauso; dafür reduziert sich der Anteil der Arbeitgeber um einen halben Prozentpunkt, sodass diese sich an der Finanzierung der Pflegebedürftigen in Deutschland nur mit einem Anteil von 1,2 Prozent statt 1,7 Prozent beteiligen müssen. Die Beitragssätze der abhängig Beschäftigten steigen entsprechend.

Ein politisches Signal

Der Vorwurf der Benachteiligung kinderloser Arbeitnehmer mag seine Berechtigung haben. In diesem Fall muss eine Benachteiligung allerdings nicht zwangsläufig falsch sein, da sie mit der Förderung von Familien ein wichtiges politisches Ziel verfolgt, das langfristig zur Erhaltung des Wohlstandes von höchster Relevanz ist. Wir leben nicht mehr in Sparta, wo der Druck auf kinderlose junge Menschen bis zur Unerträglichkeit reichte, um die Wehrfähigkeit des Militärstaats zu erhalten.

Doch das Gegenteil von schlecht ist nicht immer gut. Eine moderate Pflegebeitragserhöhung für kinderlose Arbeitnehmer ist eine zumutbare Belastung, die einem sinnvollen Ziel verpflichtet ist, dessen Wert kein vernünftiger Mensch ernsthaft bestreiten dürfte.

Der Erfolg der Pflegereform ist zweifelhaft

Gefahr droht hingegen von anderer Stelle: Verschärft sich die wirtschaftliche und politische Krise weiter, wovon leider auszugehen ist, werden auch die neu bemessenen Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht ausreichen, um Pflegebedürftigen die Zuwendung zu bieten, die sie für ihre Alltagsbewältigung benötigen.