Karl Lauterbach v1 e1638783219374
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Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen hat sich in einem offenen Brief an den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gewandt. Sie drücken ihre starke Besorgnis aus und stellen gleichzeitig Forderungen an den Gesundheitsminister.


Offener Brief der Kassenärztlichen Vereinigung:

„Betroffen reagieren wir, als Vorstand und als Vertreterversammlung der KV Hessen auf die Tatsache, dass das Bundesgesundheitsministerium trotz der absolut substanziellen Kritik, nicht zuletzt von der Bundesärztekammer, an den so genannten pharmazeutischen Dienstleistungen immer noch nicht aktiv geworden ist. Leider hat die gesamte Kritik auch bei den Pharmazeuten bisher noch kein Nachdenken bewirkt.

Aus diesem Grund möchten wir noch mal unsere tiefe Besorgnis ausdrücken und sie zu einem schnellstmöglichen Handeln auffordern. Faktisch führt man hier ein Zweitmeinungsverfahren ein, für das jegliche Evidenz fehlt. Und hier gibt wahrscheinlich keinen verordnenden niedergelassenen Arzt, der nicht schon ein oder mehrfach erlebt hat, dass Patientinnen und Patienten nach solchen „Beratungen“ wichtige, zum Teil lebenswichtige Medikamente in ihrer Dosis verändert haben oder ganz abgesetzt haben, nach dem sie eben eine solche, sogenannte „Beratung“ in einer Apotheke erfahren haben.

Die „neuen“ pharmazeutischen Dienstleistungen gehen sogar weit über das hinaus und bergen noch größere Gefahren. Getreu dem Motto: „Schuster bleib bei deinen Leisten“ und „Viele Köche verderben den Brei“. Sie selber wissen doch als Arzt nur zu gut, dass Arzneimittel nur das Werkzeug des Mediziner sind, dass zielgerichtet auf der Basis eines fundierten klinischen, ärztlichen Wissens, einer qualifizierten Diagnostik und unter Abwägung aller therapeutischen Optionen zur Anwendung kommt.“

Pharmazeutische Dienstleistungen stoppen

Weiter heißt es in dem Brief: „Hinter den Überlegungen zu einer Polymedikation, gerade zu der beraten wir bereits in unseren Praxen ausführlich, stecken aber oft auch so viele Dinge, dass wir diese leider nicht allen unseren Patienten wirklich vollständig erklären können. Dinge, von denen gerade die Pharmazeuten in der Regel kaum oder keine Kenntnis haben. Das qualifizierte Verordnen von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in der GKV setzt ein sechsjähriges Studium der Medizin, eine Facharztausbildung und eine Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit voraus. Und eben nicht rudimentäre, im Studium vermittelte Krankheitslehre, gepaart mit einer Online-Fortbildung.

Wir möchten Sie daher dringend auffordern, diese pharmazeutischen Dienstleistungen zu stoppen. Patientenschutz muss hier vor Profitinteressen der Pharmazeuten gehen.

Diese Dienstleistungen sind nahezu alle geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten massiv zu beschädigen und die Compliance, die Therapietreue bei der Einnahme von Arzneimitteln, zu gefährden.“


Gewisser Widerspruch erkennbar

„Vielleicht nicht so gerne aber trotzdem respektvoll hören wir aber auch gerne von Ihnen, dass Apotheke für diese Leistungen doch vollkommen qualifiziert sind. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass in der ärztlichen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere Patienten nach Organtransplantation oder mit einer Antitumortherapie in der Regel in hoch qualifizierten Ambulanzen oder in der ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung versorgt werden. Warum wohl? Da mag der eine oder andere medizinisch qualifizierte Mensch doch einen gewissen Widerspruch erkennen.

Ansonsten gestatten Sie uns auch den Hinweis, dass es ja in den Apotheken auch einen feinen Unterschied zwischen apothekenpflichtigen und verschreibungspflichtigen Medikamenten gibt. Pharmazeuten dürfen von sich aus ja gar keine verschreibungspflichtigen Medikamente ausgeben, weil ihnen vernünftigerweise dafür jede Qualifikation fehlt. So hat doch der Gesetzgeber den Apothekern schon jetzt einen ganz klar begrenzten und umrissenen Bereich der Zuständigkeit und damit der Heilkunde zugewiesen. Jetzt sollen sie aber komplexe Beratungen zu hoch komplexen medizinischen Bereichen anbieten dürfen, für den sie nicht einmal im Ansatz ausreichend qualifiziert sind?

Wenn es denn aber so sein soll, dass Sie die Apotheker für qualifiziert halten, wenn man dies tatsächlich will, dann sollte man ein hier bewährtes Instrument aus der Versorgung gesetzlich Krankenversicherter konsequent zur Anwendung bringen. Wir sprechen hier über die Qualitätssicherung.

Für diese Leistungen muss es eine echte und nachgewiesene Qualifikation des Pharmazeuten geben. Dazu bedarf es einer Qualitätssicherungsrichtlinie zwischen den beteiligten Apothekerverbänden, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband“, schreibt die Kassenärztliche Vereinigung Hessen weiter.


Empfehlungen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen:

„Wir empfehlen dringend, dass die Qualifikation für diese Beratungen nur nach einem Curriculum und einer Prüfung vor einer entsprechenden Kommission einer Landesärztekammer zu erlangen ist. Natürlich vor der Landesärztekammer und dort vor Medizinern mit klinischer und pharmakotherapeutischer Kompetenz für die erwähnte Versorgung.

  • Sämtliche pharmazeutischen Beratungsleistungen sind standardisiert und qualitätsgesichert zu dokumentieren. Es darf nicht hinter dem Rücken der behandelnden Ärzte beraten werden. Die Beratungsinitiative darf deshalb nur vom Patienten ausgehen.
  • Selbstverständlich muss die Information der verordneten Ärzte sichergestellt sein. Eine Einwilligung in eine Information der verordnenden Ärzte muss Voraussetzung für jede pharmazeutische Dienstleistung sein.
  • Die Information über die Beratungen hat unverzüglich, standardisiert und unterbrechungsgesichert, d.h. auf direktem Weg durch den Pharmazeuten zu erfolgen.
  • Die Dokumentation hat zusätzlich in der ePA zu erfolgen.
  • Es sind auch zum Beispiel Datum, Dauer und der Ort der Beratung und natürlich die Medikamente, zu denen beraten wurde, zu dokumentieren.
  • Vorgefundene Befunde sind zu dokumentieren und zu würdigen.
  • Die baulichen Voraussetzungen, selbstverständlich muss diese Beratung in einer geschützten Atmosphäre, getrennt vom Verkaufstresen in der Apotheke erfolgen, sind zu dokumentieren und zu prüfen.
  • Das Risiko der Beratung muss zudem auf allen rechtlichen Ebenen, wenn durch eine Falschberatung Gesundheitsschäden entstehen oder Zusatzaufwendungen in der ärztlichen Versorgung entstehen, beim Pharmazeuten liegen und ist zu versichern.
  • Die Qualität ist laufend durch eine gemeinsame Kommission aus Landesärztekammer, Kassenärztlicher Vereinigung und Apothekerverbänden zu prüfen. Diese Kommission garantiert auch sonst die Umsetzung der QS-Richtlinie. Abrechnungsgenehmigungen müssen widerrufbar sein.
  • Durch eine verpflichtende Online-Dokumentation ist eine Doppelabrechnung auszuschließen.
  • Die pharmazeutischen Dienstleistungen dürfen nicht für zusätzliche Geschäfte instrumentalisiert werden. Im Zusammenhang mit diesen Beratungsleistungen sollte der Verkauf weitere Produkte über den Apothekertresen untersagt werden.
  • Es gilt eine persönliche Leistungserbringung für alle Dienstleistung. Und sie dürfen nur durch den für diese Dienstleistung persönlich qualifizierten Pharmazeuten erbracht werden.
  • Qualifikation und Abrechnungsgenehmigung sind personenbezogen in der Apotheke kenntlich zu machen.
  • Die Beratung hat komplett unabhängig von der Pharmaindustrie zu erfolgen, deswegen dürfen nur Wirkstoffe Gegenstand der Beratung sein.
  • Erst wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, darf jemand eine Abrechnungsgenehmigung für solche Leistungen erhalten und darf eine Vergütung erfolgen.

Solche Anforderungen an eine Qualitätssicherung sind ansonsten Gang und Gäbe bei qualitätsgesicherten Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung.

Sehr geehrter Herr Bundesminister, sehr geehrter Professor Lauterbach, verehrter Herr Kollege, in Anbetracht der Brisanz dieser Vorgänge und der aus unserer Sicht evidenten Patientengefährdung, die von diesen Leistungen ausgeht, würden wir uns zum einen über eine sehr zeitnahe Antwort freuen, insbesondere auch für unsere Mitglieder, die wie gesagt, z.B. im Moment gar nicht mitbekommen, dass hier irgendjemand im Hintergrund mit ihren Patienten deren Medikationen diskutiert, ohne die medizinischen Hintergründe zu kennen, ohne wirklich die Diagnosen zu kennen, weil man die Klinik nicht kennt.

Noch mehr würden wir uns aber freuen und würden wir es begrüßen, wenn sie unverzüglich mit einer gesetzgeberischen Maßnahme das alles beenden.“