Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Ansprache an die Nation die Deutschen gebeten, sich an das Gebot zur Distanz zu halten, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern. Das war der erwartbare Teil ihrer Rede. Ob es bald Lockerungen oder weitere Einschränkungen ins öffentliche Leben geben wird, stellte die Kanzlerin als offen und vom Verlauf der Krankheit abhängig dar. Zudem betonte sie, die Gefahr für die Demokratie, die von harten Einschnitten in persönliche und kollektive Freiheitsrechte ausgehen.


Das Thema der offenen Grenzen war in den vergangenen fünf Jahren der Kanzlerschaft Merkels von zentraler Bedeutung. Es ging auch darum, ihre Entscheidung von 2015 zu rechtfertigen, die Grenze für den Ansturm von Einwanderungswilligen nicht zu schließen. Die Grenzkontrollen, die nun in Folge der Corona-Krise wieder in der Europäischen Union durchgeführt werden, sind für sie daher besonders bitter. Merkel war dabei nicht die treibende sondern die bremsende Kraft. Gegen den Willen der anderen EU-Länder konnte sich Merkel aber nicht auf Dauer stemmen.

Merkel ist Bundeskanzlerin. Die Richtlinienkompetenz liegt bei ihr. Aber selbst sie agiert nicht im luftleeren Raum, ist Einflüssen ausgesetzt. Die deutschen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus sind im EU-Vergleich eher milde. Rigide Hausarreste wie in Spanien, Italien oder nun Belgien gibt es bisher nicht.

Ob solche Regelungen auch noch in Deutschland kommen, ließ Merkel offen. Ebenso ob Beschlossenes bald wieder zurückgenommen werde. Allerdings betonte Merkel, dass Distanz zu halten, das wichtigste Mittel sei, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Dabei komme es auf jeden Bürger an.

Es komme auf die Disziplin jedes Einzelnen an

Zwischen den Zeilen heißt das: Halten sich die Menschen an die Beschlüsse und befolgen auch deren Kern, Distanz zu halten, werden härtere Einschnitte nicht notwendig sein. Aber: Treffen sie sich weiter in Massen, kann ein drastischerer Hausarrest notwendig werden. „Diese Situation ist ernst und sie ist offen. Das heißt: Es wird nicht nur, aber auch davon abhängen, wie diszipliniert jeder und jede die Regeln befolgt und umsetzt“, so Merkel im Wortlaut.

Dass Merkel diese Einschnitte nicht will, hat sie in der Ansprache deutlich gemacht. Sie bezog sich dabei auf ihre Vergangenheit als Bürgerin des Zwangsregimes DDR: „Für jemanden wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen.“ In einer Demokratie dürften Einschnitte in die Freiheit nie leichtfertig – und nur zeitlich begrenzt durchgesetzt werden.

Grünen-Chef Robert Habeck sah darin im Anschluss an die Rede ein „Diskussionsfenster“, das Merkel geöffnet habe: Nun könne öffentlich darüber diskutiert werden, ob eine Maßnahme wirklich sinnvoll sei oder nicht – ausreichend oder eben nicht. Distanz zu halten, sei zwar „alternativlos“, so Habeck. Aber welcher Schritt dazu erfolgreich beitrage, müsse offen diskutiert werden.

Dass Merkel hart arbeitende Menschen in der Krise lobt, ist richtig, aber auch erwartbar. Dass sie um Verständnis bei denen wirbt, die mit schweren Einbußen zu rechnen haben, ebenso. Auch dass sie die Qualität des deutschen Gesundheitswesens lobt und an den Durchhaltewillen appelliert.

Immer wieder Demokratie ins Feld geführt

Erstaunlich ist, wie oft die Kanzlerin die Demokratie ins Feld führt: „Wir leben nicht vom Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung… Dass wir diese Krise überwinden, dessen bin ich vollkommen sicher. Aber wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren.“

Diese Sätze stehen im selben Absatz. Nun könnte man es für einen Zufall halten und glauben, dass sich die Frage nach den Opfern nur auf die Verlustzahlen bezieht. Doch dieser Absatz beginnt mit dem Satz: „Wir sind eine Demokratie“. Solche Sinneinheiten sind in einer Regierungserklärung nichts Zufälliges. Jedes Wort, jeder Kontext wird von Experten durchdacht und geprüft.

Der Absatz endet mit der Aufforderung: „Wir können jetzt, entschlossen, alle miteinander reagieren. Wir können die aktuellen Einschränkungen annehmen und einander beistehen.“ Das ist der Appell einer Regierungschefin an ihr Volk, sich so zu verhalten, dass weitere Einschnitte in die persönliche Freiheit nicht notwendig werden. Auch eine Regierungschefin agiert in einer außergewöhnlichen Lage wie der Corona-Krise nicht im luftleeren Raum – auch sie wird getrieben.