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Was ich Euch erzählen will, ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her. Es war kalt an dem Tag, an dem sie kamen, so kalt wie heute. Es wurde schon dunkel, und wir hatten uns dicht beieinander gelegt, Marvin und ich, um nicht zu frieren in dem klapprigen Stall draußen auf dem Feld. Ein Stall ist das eigentlich gar nicht, mehr so ein Verschlag aus alten Balken und morschen Brettern. Aber Marvin und ich haben da wenigstens ein Dach über dem Kopf, und das Stroh ist trocken und warm. In der Krippe ist Heu, und zum Bach ist es auch nicht weit.


Marvin ist mein Freund, und er ist ein Esel.  Die Leute sagen, er sei dumm, aber das ist nicht wahr. Marvin ist klug viel klüger als ich. Er kann „IA“ sagen, wo ich nur ein „Muh“ zustande bringe. Aber die Leute sagen Vieles, was nicht stimmt. Ich sei blöd, sagen manche, nur weil ich ein Ochse bin. Dabei kennen sie mich gar nicht, wissen nicht einmal, dass ich Otis heiße.

Marvin ist nicht dumm, und ich bin nicht blöd. Wir haben zwar noch nicht viel von der Welt gesehen. Das heißt, Marvin war schon ein paar Mal in Jerusalem, das ist so zehn Kilometer von hier. Jerusalem ist eine große Stadt mit einem Palast und einem Tempel. In dem Palast wohnt der böse König Herodes, den die Menschen fürchten, und in dem Tempel wohnt der liebe Gott, den die Menschen anbeten.

Marvin war dort mit unserem Herrn. Der ist Bauer und hat eine Schafherde. Ein paar Mal im Jahr geht er nach Jerusalem auf den Markt und verkauft dort Wolle und Käse aus Schafsmilch. Das muss Marvin dann von Bethlehem bis in die Stadt tragen. Auf dem Rückweg, wenn unser Herr alles verkauft hat, setzt er sich auf Marvins Rücken, weil er nicht mehr so gut laufen kann. Nach dem Markt geht er nämlich immer noch ins Wirtshaus und trinkt dort süßen, roten Wein, von dem er  ganz durcheinander wird im Kopf.

Wenn er dann bei Marvin auf dem Rücken sitzt und vor sich hindöst, muss mein Freund ihn tragen und den ganzen Weg alleine zurückfinden. Er findet immer wieder heim, so klug ist er. Von wegen dumm!  Ich selbst bin noch nie so recht aus Bethlehem rausgekommen. Einmal war ich in Husan, aber das liegt gleich nebenan, westlich von hier. Da hatte unser Herr Holz gekauft, mit dem er sich ein neues Haus gebaut hat. Das Holz war auf einen Karren gestapelt, den ich nach Husan und dann nach Haus gezogen habe. Das war ganz schön schwer, aber ich habe das locker geschafft. Ich bin nicht blöd, und ich bin kein Schwächling.

Eigentlich haben Marvin und ich unseren Platz im Stall beim Haus unseres Herrn. Das Haus ist aus Holz und hat ein Dach mit Ziegeln. Der Stall ist an das Haus angebaut, und dahinter ist eine Weide, auf der sogar Gras wächst, weil unser Herr einen Brunnen hat, aus dem er Wasser pumpen kann. Dafür hat er ein Windrad gebaut, das einen Mechanismus antreibt, der das Wasser schöpft und nach oben befördert. Mit dem Wasser aus dem Brunnen kann er dann seinen Acker, seinen Garten und auch die Weide bewässern. Das muss er auch, weil es in Bethlehem manchmal  Wochen und Monate nicht regnet.

Also auf dieser Weide und in dem Stall bei dem Haus sind Marvin und ich eigentlich daheim. Aber eines Morgens kam unser Herr in aller Frühe in den Stall, legte uns Geschirr an, führte uns beide aus dem Stall und aus dem Ort hinaus.



Unterwegs hatte unser Herr ein paar Hirten getroffen

Wir gingen nach Süden, wo es bald einsam wurde und ziemlich öde. In dieser Gegend wächst nicht viel, meist nur Disteln, Dornen und hartes Gras. Hier weiden die Schafe, und hier stand  dieser klapprige Stall.

Unterwegs hatte unser Herr ein paar Hirten getroffen, die er kannte. Mit denen hatte er sich unterhalten und wir erfuhren, dass er Marvin und mich hier draußen verstecken wollte, damit die römischen Steuereintreiber uns nicht sehen sollten.

Die Schäfer waren sehr wütend gewesen. Nicht genug damit, dass dieser Kaiser von Rom aus ein Land nach dem anderen eroberte und inzwischen die halbe Welt mit seinen Soldaten besetzt hielt. Jetzt mussten die Menschen in den besetzten Ländern auch noch Geld an ihn zahlen, weil er den Hals nicht voll bekam. „Tribut“ nannten sie das, und die Steuereintreiben des Kaisers zogen durch die Städte und die Dörfer in den besetzten Ländern und schrieben alles, was die Menschen besaßen, in Steuerlisten. Aus dem, was in den Listen stand, berechneten die kaiserlichen Beamten dann die zu zahlende Steuer, den Tribut.

Hätten sie Marvin und mich im Stall unseres Herrn gesehen, dann hätten sie „1 Ochse und 1 Esel“ in die Steuerliste geschrieben, und unser Herr hätte einen halben Schekel pro Jahr für jeden von uns zahlen müssen. „Schekel“ heißt bei uns das Geld. Für einen Schekel bekam er im Gasthaus fünf Krüge süßen, roten Wein. Da wollte er das Geld lieben dem Wirt in Jerusalem geben als dem Kaiser in Rom.

Das hatte er den Hirten erzählt, und die lachten, klopften ihm auf die Schulter und lobten ihn, weil er den mächtigen Kaiser mit seinen Soldaten und Steuerbeamten an der Nase herumführte. In diese einsame Gegend würden die Römer nicht kommen, und wenn die Schnüffler durch waren und mit ihren Listen nach Bayt Jala oder nach Irtas weitergezogen waren, würde er Marvin und mich ja wieder nach Hause holen.

Die Hirten hatten von Leuten, die auf der Durchreise waren, gehört, dass der Kaiser jetzt sogar befohlen hatte, dass alle Menschen in diesem riesigen Reich der Römer sich in Steuerlisten einschreiben lassen müssten, damit der Kaiser weiß, wie viele Untertanen er überhaupt hat und wie viel Geld zusammenkommt, wenn jeder Steuern zahlt. Dazu musste aber jeder Bürger dorthin gehen, wo er einmal geboren wurde, weil dort im Rathaus die Namen von allen in dicke Bücher geschrieben sind, die da auf die Welt gekommen waren. Dann wurden der Name, von den Menschen, die aufs Rathaus kamen, mit den Namen in den dicken Geburtsbüchern abgeglichen und dann in ein anderes dickes Buch aufgeschrieben zusammen mit der gültigen Adresse.

Das waren dann die Steuerlisten. Da schauten die kaiserlichen Finanzbeamten hinein und wussten genau, wo sie den Tribut eintreiben konnten und wieviel da im Jahr für den Kaiser zusammenkam. Und der wusste dann ganz genau, wie viel Geld er ausgeben konnte für neue Paläste, neue Straßen und neue Armeen, um noch mehr Länder zu erobern.

Der Kaiser in Rom hieß Octavianus Augustus und so heißt er heute noch. Er sitzt schon seit 42 Jahren auf dem Thron. Das muss man sich mal vorstellen: seit 42 Jahren; so alt wird keine Kuh in Israel, kein Ochse und kein Esel.

Sein Vater war der berühmte Julius Caesar. Der hatte angefangen mit dem Ländererobern. Und als Marvin und ich auf die Welt kamen, war Palästina, so heißt das Land, wo wir wohnen, schon seit Jahren eine römische Provinz Namens Judäa mit Jerusalem als Hauptstadt und einem König, der eigentlich nichts zu sagen hatte, weil er ein Vasall des Kaisers in Rom war.



Knecht Herodes und Kaiser Augustus

Ein Vasall ist so etwas Ähnliches wie ein Knecht auf dem Bauernhof, der tut, was sein Herr ihm sagt. Der Knecht ist Herodes, der Kaiser ist Augustus und der Hof ist Judäa. Also so ähnlich. Weil er eigentlich nichts zu sagen hat, ist Herodes so verbittert und so böse. Und obwohl er eigentlich nichts zu sagen hat, hält er sich für einen großen Herrscher und lebt in ständiger Furcht, jemand wolle ihm seinen Thron wegnehmen.

Die größte Furcht hat er vor dem Messias, von dem die Propheten gesprochen haben. Propheten waren kluge Männer, die vor tausend Jahren gelebt haben und in die Zukunft schauen konnten. Und da sahen sie den Messias, den Retter, den Befreier, den Gott auf die Erde schicken sollte, damit er die Römer vertreibt mit ihren Soldaten und ihren Steuereintreibern.

Der würde der neue König der Juden sein und ewig herrschen in Frieden und Herrlichkeit. Aber genau das machte dem Herodes Angst. Die Römer vertreiben wäre ja in Ordnung gewesen, aber der neue König werden? Dann würde dieser Messias ja in Jerusalem, im Palast auf dem Thron sitzen und auch noch in Herrlichkeit und Ewigkeit; eine schreckliche Vorstellung für Herodes. Da wollte er doch lieber Vasall des Kaisers sein, aber wenigstens König bleiben. So hockte Herodes auf dem Thron voller Misstrauen und Ängstlichkeit und schaute zu, wie die Römer das Land ausplünderten und wie die Menschen kreuz und quer durch das Land zogen, um sich einschreiben zu lassen.

Die Frau und der Mann, die an diesem Abend vor ziemlich genau einem Jahr zu dem Stall kamen, waren schon tagelang unterwegs gewesen. Von Nazareth oben in Galiläa waren sie vor ungefähr zehn Tagen los gelaufen Richtung Bethlehem, weil er ein Urur-und-noch-zehnmal-urenkel des David war, der vor 1000 Jahren König von Juda und von Israel gewesen ist und der gebürtig auch aus Bethlehem stammte.

Deshalb musste Josef, so hieß der Mann, und Maria, so hieß die Frau, von Nazareth, wo sie wohnten, die 180 Kilometer nach Bethlehem laufen, um sich einschreiben zu lassen, wie es der Kaiser befohlen hatte. Weil aber so viele Menschen auf den Beinen waren, hatten sie in unserem Dorf, wo sie mittags angekommen waren, keine Unterkunft gefunden.

Alle Gastzimmer waren belegt. Sogar im Stall unseres Herrn waren Reisende untergebracht. Also waren sie weiter gegangen nach Süden und am Abend bei unserem klapprigen Stall angekommen. Und weil es dunkel wurde und sie nicht mehr weiter gehen konnten, sind sie hereingekommen. Marvin und ich haben sofort gesehen, dass die Frau hochschwanger war und kaum, dass sie sich im Stroh etwas eingerichtet hatten, setzten die Wehen ein, und das Kind kam auf die Welt.

Über dem Stall leuchte hell ein Stern

Es war ein Junge. Maria und Josef packen ihn in Windeln und in eine Decke und legten ihn in das warme Heu in der Krippe. Marvin und ich rückten ganz nahe, weil wir neugierig waren und weil wir den Winzling in der Krippe wärmen wollten. Und da ging es draußen plötzlich los. Marvin und ich erschraken beinahe zu Tode. Zuerst wurde es taghell.

Durch ein Loch in der Decke konnte man sehen, dass über dem Stall ein Stern stand, viel niedriger und heller als alle anderen und mit einem Schweif an der Seite wie ein Komet.

Aber das war noch nicht alles. Auf einmal fing ein Singen an, laut und wunderschön, als wäre draußen ein Chor von Engeln versammelt gewesen. Sie sangen Gloria und Halleluja, und das Kind in der Krippe lächelte, als würde es verstehen. Als es dann wieder ruhiger wurde, war auch der Stern verschwunden. Dafür kamen jetzt Hirten von den Nachbarweiden, guckten und staunten. Einer legte ein warmes Schaffell über das Kind. Ein anderer hatte Milch für die junge Mutter, ein anderer ein Stück Brot und wieder ein anderer ein Stück Käse. Dann gingen sie wieder, weil Maria Ruhe brauchte. Die schlief dann auch rasch ein, aber Josef blieb die ganze Nacht wach und passte auf.

Maria, Josef und das Kind, das sie Jesus nannten, blieben ein paar Tage bei uns im Stall. Der Josef war von Beruf Zimmermann, und er verstand sein Handwerk. Während Maria sich ausruhte oder das Kind versorgte, flickte er das Loch im Dach und reparierte notdürftig schadhafte Stellen in den Wänden, durch die der kalte Wind gepfiffen hatte. Als die Drei wieder aufbrachen, zuerst nach Bethlehem zum Einschreiben und dann wieder nach Hause, nach Nazareth, da war unser Stall nicht mehr ganz so klapprig. Aber Marvin und ich wurden bald  abgeholt und zurück in den heimischen Stall im Dorf gebracht, weil die Luft wieder rein war, wie unser Herr meinte.

Seitdem ist in Bethlehem und in Judäa, ja in ganz Palästina nichts mehr, wie es war. Zuerst haben die Hirten im Dorf erzählt von dem Stern und von den Engeln und von dem Kind. Und jetzt sind Alle aufgeregt, weil es heißt, der Messias sei geboren, der Retter der Welt, auf den die Menschen schon so lange warten. König Herodes, so sagen die Leute, sei nervös und fürchte um seinen Thron. Marvin und ich sind ein bisschen stolz, weil wir mit unserem Atem vielleicht den Messias gewärmt haben. Wenn der in seiner ersten Nacht auf dieser Welt gefroren hätte, dann hätte er es sich das mit dem Retten vielleicht noch einmal überlegt.


Über Frieder Zimmermann

Foto: Frieder Zimmermann

Frieder Zimmermann, geboren 1954 in Worms der heute im rheinhessischen Oppenheim lebt, studierte in Mainz Germanistik und Geschichte (Lehramt Gymnasien).

Zweites Staatsexamen nach Referendariat am Studienseminar in Bad Kreuznach 1984.

Nach erfolgloser Bewerbung für den Schuldienst (Lehrerschwemme) wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter des Wahlkreisbüros bei einem rheinhessischen Bundestagsabgeordneten.

Nach dessen Rückzug aus der Politik Bewerbung auf eine ausgeschriebene Stelle bei der Landwirtschaftskammer Rheinland-Pfalz und dort von 2004 bis Ende 2016 Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Seit lebensbedrohlicher Erkrankung 2013/2014 schwerbehindert und infolgedessen vorzeitig in Rente. Der Autor ist geborener und bekennender Rheinhesse mit ausdrücklicher Identifikation mit der hiesigen Mundart (mehrfach vordere Platzierungen beim Rheinhessischen Mundartwettbewerb, Sieger 1995 und 2003), mit der regionalen Kultur, der vom Weinbau geprägten Landschaft und insbesondere mit dem hier erzeugten Wein, den Winzern und der hier typischen Weingastronomie.

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