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Warum tun wir uns in Deutschland mittlerweile so schwer damit, die Corona-Pandemie zu ertragen? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Der Virus bringt Leid und Entbehrungen mit sich. Doch darunter leidet die ganze Welt, teilweise schlimmer als wir. Daher gibt es auch eine komplexere Antwort: Wir haben keinen Wertekompass mehr.


Die arabische Welt werde durch ihre Religiosität zusammen gehalten. Der westlichen Welt fehle diese, das schwäche sie im Wettbewerb mit dem Wertemodell der arabischen Welt. Mit dieser These hausierte Peter Scholl-Latour 2001 durch die deutschen Talkshows. Sie war schwer zu schlucken, denn gerade war im Namen dieser Religion ein mörderischer Terroranschlag geschehen.

Tausende Menschen mussten sterben, Familien wurden zerrissen und wofür? Für eine vage Vorstellung eines Gott namens Allah und das Versprechen auf Jungfrauen im Leben nach dem Tod. Ein destruktiverer Akt ist kaum denkbar. Sodass es schwer zu akzeptieren war, von einer stärkenden Kraft zu sprechen, die von dieser Spiritualität ausgeht.

Bindekraft der Kirchen verloren

Für die Jüngeren: Peter Scholl-Latour war der Karl Lauterbach der Jahrtausendwende. Der Journalist wurde zu allem befragt, was auch nur irgendwie im Zusammenhang mit den Terroranschlägen im amerikanischen Osten zu tun hatte. Er war ein weit gereister Mensch. Und er hatte ein gutes Gespür für eine Tendenz. Auch und gerade wenn es gegen den Zeitgeist sprach, ihr Aufkommen wahrzunehmen.

Schon 2001 war zu erkennen, dass die Bindekraft der Kirchen nachließ. Zum einen fing die Austrittswelle schon an. Zum anderen ließ der Zugriff der Pfarrer und Pastoren auf das Leben ihrer „Schäfchen“ nach. Dieser Einfluss war zumindest in ländlichen Gemeinden bis in die 80er Jahre noch erdrückend.

Doch ist Religiosität nicht die einzige Möglichkeit der Sinnstiftung. In der Bundesrepublik fanden viele ihre Erfüllung darin, für Schwache einzustehen. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft war für sie eine Selbstverständlichkeit. Doch auch die verloren um die Jahrtausendwende an Bindungskraft und Mitgliedern. Kleiner Test: Wer kann sich an eine Äußerung eines Gewerkschaftsführers erinnern, die zuletzt eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst hätte?

Regierungen geben Werte vor

Regierungen verwalten nicht nur das Land. Sie geben auch Werte vor. Helmut Kohl sprach 1982 bei seinem Amtsantritt von einer geistig moralischen Wende, die er herbeiführen wolle. Und tatsächlich veränderte sich das Land: Die politische Aufmüpfigkeit der Jugend wandelte sich in Konsumorientierung, Unternehmerfeindlichkeit in Anerkennung wirtschaftlichen Erfolgs.

Auch Gerd Schröder kündigte 1998 an, nicht alles anders, aber vieles besser machen zu wollen. Tatsächlich stand die von ihm geführte rot-grüne Regierung für gesellschaftlichen Wandel: Das Zusammenleben nicht heterosexueller Menschen, die Gleichberechtigung von Frauen, die Rechte von Menschen mit ausländischer Herkunft oder die Anpassung der Lebenswelt an die Bedürfnisse behinderter Menschen bekamen eine hohe Wertigkeit.

Die Regierung von Angela Merkel steht vor allem für den Kampf gegen eine Möglichkeit der Sinnstiftung: dem Bewusstsein für die eigene Herkunft. Zu einem der Bilder, das von ihrer Amtszeit in Erinnerung bleiben wird, gehört das vom Wahlabend 2013, als sie Gesundheitsminister Hermann Gröhe ein Deutschland-Fähnchen, mit dem er feierte, aus der Hand riss und zu Boden warf.

Die schon länger hier leben

Die Verneinung der Identität ging so weit, dass es die Regierung im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise vermied von Deutschen oder Deutschland zu sprechen. „Diejenigen, die schon länger hier leben“ wurde zur Phrase, die eine Überwindung des Nationalen zum Ausdruck brachte.

Nun gibt es auch im Deutschland des Jahres 2021 ein Wertesystem. Minderheiten schützen und Schwache stärken zu wollen, sind gesellschaftliche Ziele. Und das nicht die schlechtesten. Eigentlich. Doch nicht allen wird erlaubt, an diesem Prozess zu partizipieren.

Die Vordenker dieser Richtung sprechen einem Teil der Menschen ab, sich an dieser Strömung beteiligen zu können. Die Schwierigkeiten in der genauen Benennung dieser Gruppe liegt in der Unbestimmtheit, mit der jene Vordenker diese Gruppe definieren. Denn eine Klarheit in der Begrifflichkeit würde bald einen Blick auf die Diffusität der Gedanken dahinter frei machen.

Feindbild weißer, alter Mann

Klares Feindbild ist: der weiße, alte Mann. Wer also zu denjenigen gehört, „die schon länger hier leben“, trägt eine Art Erbsünde mit sich. In der Konsequenz bedeutet das, egal wie viel er Schwachen gibt, egal wie tolerant er ist, er gehört quasi per Geburt zu den Tätern im Rassismus. Nicht mal Ehre wird ihm zugestanden. Weil er per Geburt ein Täter des Rassismus ist, ist eine Beleidigung, die auf seine Herkunft zielt, keine Beleidigung. Das ist in Deutschland sogar Rechtsprechung.

Nun konnte sich in den Konsum und ins Privatleben zurückziehen, wer keine Sinnstiftung fand. Wenn es schon keine Spiritualität gab, dann doch wenigstens eine Reise nach Indien, ein Essen beim Chinesen oder einen italienischen Sportwagen.

Doch genau da setzt der Doppelschlag des Corona-Virus an: Es zerstört diesen Rückzugsort. Für den einen schneller, für den anderen langsamer. Außerdem würde seine Überwindung eine innere Kraft erfordern, an der es dieser Gesellschaft eben mangelt.

Patriotische Aufgabe Einkaufen

Als die Zustimmungswerte anfingen zu sinken. Als eigenes Versagen etwa beim Impfen deutlich sichtbar wurde, bemühte Angela Merkel die „nationale Kraftanstrengung“, um zum Durchhalten in der Pandemie zu ermutigen. Ein kraftloser Versuch. Hilflos aus dem Mund einer Frau, die mit dem Bild des weggeworfenen Fähnchen verbunden wird.

Grotesk wirkte es sogar, als ihr Wirtschaftsminister Peter Altmaier Einkaufen zur „patriotischen Aufgabe“ erklärte. Zu offensichtlich war die Absicht: Nämlich sein eigenes Versagen in der Regulierung des Online-Handels zu überspielen. Zu deutlich spürbar war, dass dem Politiker Patriotismus so fremd war wie eine Sonderregel im Football.

Andere Länder wie die USA hat die Pandemie härter getroffen als Deutschland. Auch dank unseres (noch) starken Gesundheitssystems. Knallharte Ausgangssperren wie in Spanien hat es noch nicht gegeben. Und trotzdem ist den Deutschen anzuschauen, wie ihnen die Kraft ausgeht, die Pandemie durchzustehen.

Demobilisierung als Strategie

Die Langzeit-Strategie der Politikerin Merkel war die „Assymetrische Demobilisierung“. Deren Ziel ist eine Entpolitisierung des Landes, wobei die gegnerische Seite stärker demobilisiert werden soll, was dann im Gegenzug der eigenen Seite die Mehrheit verschafft. Erreicht wird das, in dem die Regierung bei allen Themen nachgibt, die der anderen Seite zur Mobilisierung dienen könnten: Ende der Wehrpflicht, Atomausstieg, Ehe für Alle oder der Verzicht auf Grenzkontrollen (vor Corona) – fast alle großen Projekte Merkels lassen sich so erklären.

Strategisch war das genial. Eine anfangs belächelte Kandidatin, die 2005 in ihrem ersten Wahlkampf einen enormen Vorsprung beinahe komplett versemmelt hätte, sicherte sich souverän drei Wiederwahlen. 2013 kratzte sie sogar an einer absoluten Mehrheit.

Mehltau

Doch als moralischer Impuls war der Stil für das Land verheerend. Mehltau liegt über Deutschland. Nicht erst seit Corona. Doch der Virus hat ihn sichtbar gemacht. Eine Mobilisierungskraft, die auf einem Wertesystem beruht, gibt es nicht. Pragmatismus hat ihn ersetzt. Die sich formierenden Gegner sind die, denen das existenzielle Aus droht.

Ein großer Teil der Maßnahmen-Befürworter lebt direkt oder indirekt von staatlichem Geld. Die Befürworter steigern sich in eine Ersatzreligiosität. Den Sinn einzelner Maßnahmen in Frage zu stellen, wird zum Sakrileg. Beispiel Stoffmasken. Wer zwischen April und Januar gesagt hätte, dass sie keinen echten Schutz bieten, wäre ein Covidiot gewesen. Jetzt ist es Regierungsposition. Über den Widerspruch dahinter redet kaum einer. Hinterfragen ist in Religionen nicht beliebt.

Auch Humor und Ersatzreligiosität schließen sich aus. Das zeigt sich auch in den Themen, die in den letzten Jahren zur Ersatzreligion gemacht wurden, wie der Kampf gegen den Klimawandel oder für eine „gendergerechte“ Sprache. Der Kabarettist Dieter Nuhr kann mittlerweile ganze Programme damit füllen, was es heißt, wegen Sakrileg-Humor ersatzreligiös verfolgt zu werden.

Im Herbst oder im nächsten Winter endet voraussichtlich die Kanzlerschaft Angela Merkels. Es wäre wünschenswert, wenn der oder die Nachfolgerin die Demobilisierung zum Zwecke des eigenen Machterhalts beenden und dem Land auch wieder eine moralische Perspektive bieten. Eine Perspektive auf ein stabiles Wertesystem, das keine hektische Ersatzreligion mehr erfordert.