Nachrichten Hessen | Abseits der aktuellen Coronapandemie ist die Reform der ambulanten Notfallversorgung eines der zentralen Strukturthemen im deutschen Gesundheitswesen. In drei hessischen Landkreisen startet im Herbst ein Modellprojekt, in dessen Rahmen die Versorgung konsequent weiterentwickelt wird: sektorenübergreifend, orientiert an den für die Behandlung passendsten Ressourcen und durch konsequente Digitalisierung in Echtzeit verfügbar.


Engpässe in der Notfallaufnahme

Das Problem ist bekannt: Patienten mit eigentlich weniger schweren Erkrankungen suchen Notfallaufnahmen von Kliniken auf und binden dort Ressourcen, die dringend für die akute Behandlung schwer Erkrankter benötigt werden. Andererseits ist über die 112 angefordertes Rettungsdienstpersonal verpflichtet, Patienten ins Krankenhaus zu bringen, obwohl diese in der ambulanten Versorgung beim Haus- und Facharzt betreut werden könnten. An dieser in Deutschland täglich sehr häufig auftretenden Problemstellung setzt das „SaN-Projekt“ an, das ab Oktober in den Landkreisen Gießen, Main-Kinzig und Main-Taunus ambulante und stationäre Versorgung sowie den Rettungsdienst optimal miteinander verbindet.

Schnelle und richtige Behandlung für Patienten

Durch den Einsatz digitaler Systeme (SmED/IVENA) können nicht nur alle Gesundheitsdaten unmittelbar zur Verfügung gestellt und übergeben werden, auch die passgenaue räumliche Steuerung ins Krankenhaus oder in die Praxis ist durch die digitalen Assistenzsysteme möglich. Das bedeutet im Ergebnis: Patientinnen und Patienten werden schnell richtig behandelt. Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) ist genauso Projektpartner wie die Kassenärztliche Vereinigung Hessen, die Hessische Krankenhausgesellschaft (HKG), die drei beteiligten Landkreise, die Landesärztekammer Hessen sowie der Hessische Städte und Hessische Landkreistag. Evaluiert wird das Modellprojekt durch das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in Berlin.



Hessens Sozial- und Integrationsminister Kai Klose dazu

„Der Gesetzentwurf zur Notfallversorgung des Bundesministeriums für Gesundheit sieht den Aufbau einer integrierten Notfallversorgung in Deutschland vor: Hierzu soll ein digital vernetztes Gemeinsames Notfallleitsystem – kurz GNL – aufgebaut werden. Die Hessische Landesregierung unterstützt daher das Pilotprojekt des Hessenmodells, ein Schnittstellenprojekt zur ambulanten Notfallversorgung unter Federführung der Kassenärztlichen Vereinigung. Hessen ist damit ein bundesweiter Vorreiter. Ich bin gespannt auf die Erkenntnisse, die wir aus dem Projekt gewinnen werden und hoffe, dass sie uns dem Ziel einer sektorenübergreifenden Patientenversorgung ein großes Stück näher bringen.“

Modell soll Maßstäbe setzen

Für die Vorstände der KV Hessen, Frank Dastych und Dr. Eckhard Starke, geht mit dem Start des Modellprojekts ein langgehegter Wunsch in Erfüllung: „Hessen war in den vergangenen Jahren immer wieder konsequenter Treiber der Weiterentwicklung der Notfallversorgung. Der Gemeinsame Tresen am Klinikum Höchst war in dieser Entwicklung ein wichtiger Schritt. Nun entwickeln wir dies konsequent weiter, indem wir die Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung tatsächlich aufbrechen. Und indem wir die Patienten optimal in die Versorgungsressourcen steuern, die die passendsten sind. Hier geht es also nicht um am grünen Tisch entwickelte Konzepte, sondern Versorgung in der Praxis. Und deshalb bin ich sehr optimistisch, dass wir auch mit diesem Modell wieder Maßstäbe setzen werden.“

Patienten soll schnell geholfen werden

Auch den hessischen Krankenhäusern ist das SaN-Projekt eine Herzensangelegenheit. Bislang war die Notfallversorgung stark durch die sektorale Trennung gekennzeichnet. Dies hat in einigen Fällen zu Engpässen in den Notaufnahmen geführt. Das soll sich ändern! Der geschäftsführende Direktor der HKG, Prof. Dr. Steffen Gramminger, dazu: „Das SaN-Projekt ist ein wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung der Notfallversorgung. Immer mehr Menschen mit vermeintlich akuten Beschwerden kamen spontan in die Notaufnahme unserer Häuser. Damit werden Ressourcen genutzt, die eigentlich der Versorgung von medizinischen Notfällen vorbehalten sein sollten. Durch die Verzahnung bereits vorhandener Systeme können bestehende Synergien optimal und effizient zum Wohl der Patienten genutzt werden. Es geht uns darum, dass die Patienten zur richtigen Zeit am richtigen Ort vorstellig werden und ihnen schnell geholfen werden kann. Eine sektorenübergreifende Versorgung der Bevölkerung bildet die Zukunft unseres
Gesundheitssystems.“



Susanne Simmler, erste Kreisbeigeordnete des Main-Kinzig-Kreises dazu

„Mit dem sektorenübergreifenden Modellprojekt, das wir heute gemeinsam vorstellen, wird deutlich, dass die Rettungsdienste in unseren Landkreisen nicht nur gleichwertige Partner in der Notfallversorgung, sondern eben auch die Experten direkt am Patienten sind. Wir und vor allem die Kollegen vor Ort bekommen mit den digitalen Möglichkeiten und der Durchlässigkeit genau das Instrumentarium an die Hand, das für die beste Versorgung unserer Bürgerinnen und Bürger gebraucht wird. Zudem setzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent auch bei uns in den Landkreisen weiter ein. Unser Versorgungssystem ist ein Mosaik und das Modellprojekt ist nicht nur ein weiterer Stein, es rundet das Bild ab. All das – so auch das Projekt ,Tele-Notarzt‘ im Main-Kinzig-Kreis – machen wir, um hilfebedürftigen Menschen noch schneller und zielgerichteter zu helfen.
Unsere oberste Prämisse dabei ist, jedem Menschen bestmöglich zu helfen. Mit unserem Modell heute kann uns dies noch besser gelingen, da direkt vor Ort entschieden wird, was für den Patienten das Beste ist. Das kann die stationäre Versorgung sein, das kann aber auch die ambulante Versorgung sein. Die passgenaue Steuerung in die jeweiligen Systeme, gepaart mit einer schnellen Übermittlung der relevanten Patientendaten eröffnet dem Patienten den direkten Weg in die bestmögliche Behandlung. Dies wird sicherlich nicht nur in unseren drei Landkreisen umgesetzt werden, sondern auch in anderen Landkreisen Anklang finden. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass das Schule macht“, sagt
Susanne Simmler.

Das Prinzip des Modellprojekts ist denkbar einfach

Partnerpraxen loggen sich in IVENA, ein System zur Ressourcenübersicht in Echtzeit, ein und stellen ambulante Versorgungsressourcen zur Verfügung. Diese können vom Rettungsdienst bei Bedarf „geblockt“ und die Praxen angefahren werden. Erfordert das Krankheitsbild eine Versorgung im Krankenhaus, fährt der Rettungsdienst mittels IVENA das Krankenhaus in der Nähe mit verfügbaren Versorgungskapazitäten an. Ambulanter wie stationärer Versorgung stehen die bereits erhobenen Patientendaten (Diagnose, Anamnese, Ersteinschätzung mittels SmED) digital zur Verfügung und müssen nicht erneut erhoben werden.