Mainz. Deutsche Einheit, Deutscher Herbst oder Brandts Kanzlersturz – zu den großen Ereignissen der Geschichte gibt es Doku-Spielfilme. Nun verewigt das ZDF mit „Stunden der Entscheidung“ die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, in der sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entschied, das Dublin-Abkommen außer Kraft zu setzen und Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland kommen zu lassen. Doch ein rundes Bild wird das nicht – vor allem weil eine Person fehlt.

Merkel, so eine gängige Theorie, seien schöne Bilder wichtiger als Inhalte. Diese Theorie will Thomas de Maizière gleich am Anfang von Name des Films aus der Welt schaffen. Das sei so nicht. Um ein paar Szenen weiter sein Agieren mit dem Satz zu rechtfertigen: „Das Bild hat mich sehr bewegt.“ Gemeint ist ein Zug von Flüchtlingen, der sich von Budapest aus auf den Weg gemacht hat, um zu Fuß über die Autobahn bis zur österreichischen Grenze zu kommen.

Thomas de Mazière war 2015 Innenminister, Peter Tauber Generalsekretär der CDU und Sigmar Gabriel Vorsitzender der SPD und Vizekanzler. Es sind ausschließlich Ehemalige wie sie, die sich in „Stunden der Entscheidung“ zu Wort melden. Die Aktiven schweigen. Allen voran Angela Merkel. Helmut Kohl und Helmut Schmidt haben seinerzeit die Chance genutzt, um in Dokumentationen über Mauerfall und Deutschen Herbst ihre Sicht der Dinge darzustellen.

„Den Mächtigen erkennt man am Schweigen“, sagt Tilla Kratochwill als Merkels Büroleiterin Beate Baumann. Vielleicht beherzigt die Kanzlerin das und schweigt daher zu dem Thema. Zumal sie ja eben noch Kanzlerin ist. Und das Thema auch noch nicht beendet. Anders als es Einheit und RAF waren, als sich Kohl und Schmidt dazu zu Wort meldeten.

Trutschige Tante als Kanzlerin

Wenn die echte Merkel sich nicht äußert, muss es die fiktive rausreißen. Das kann eine Stärke des Genre Doku-Spielfilm sein. Doch Heike Reichenwallner gibt eine trutschige Tante, die Belangloses sagt, vor sich hin brütet, Belangloses sagt – und so ziehen sich die knapp 90 Minuten entsprechend zäh dahin.

Auch sonst gelingt Regisseur Christian Twente wenig Gutes. Kein Klischee lässt er aus, auch nicht das von Merkel selbst initiierte von der Kartoffelsuppe, die sie selbst kocht. Die Dialoge zwischen der Kanzlerin und ihrem Team hören sich so hölzern an, als stammten sie aus einem CDU-Werbefilm, aus dem die Parteivertreter alle Vorschläge der Agentur gekürzt haben, um es doch so zu machen, wie sie es sonst auch immer tun. Das Gefühl, mit den Mächtigen am Tisch zu sitzen, bekommt der Zuschauer indes nie.

Nicht wie aus einem schlechten Werbespot sehen die nachgestellten Flüchtlingssequenzen aus – sondern wie aus einem richtig guten Werbespot. Aus dem Off hört man, welch unerträglich Zustände 2015 am Budapester Bahnhof geherrscht haben – etwa wegen der Hitze. Doch Mohammad Zatareih (Aram Arami) sieht aus, als ob er gerade für Jeans oder Fitnessdrinks wirbt. Die Dialoge, die er und die anderen Flüchtlingen führen, sind so gestelzt, als ob der Referent von Robert Habeck eine politisch korrekte Version von Winnetou geschrieben hätte.

Für Merkel oder Nazi

Politische Gegner der Merkel-Entscheidung kommen nicht vor dem Mikrofon zu Wort. Kein einziger. Stattdessen sinniert die trutschige Fiktiv-Merkel aus dem Autofenster und hört die (realen) „Hau ab“-Schreie von ultrarechten ostdeutschen Demonstranten aus dem Off. Für Merkel oder Nazi – dazwischen gibt es wieder einmal nichts.

Das gilt auch für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Dem ist in „Stunden der Entscheidung“ zuzutrauen, dass er auf die Flüchtlinge schießen lässt. Außerdem will er Merkel provozieren. Und ihm ist zuzutrauen, dass er auf die Flüchtlinge schießen lässt. Auch will er, dass die Flüchtlinge nach Deutschland weiterziehen. Und dann ist ihm ja noch zuzutrauen, dass er auf die Flüchtlinge schießen lässt. Da musste Merkel so entscheiden, wie sie sich dann ja auch entscheidet.

Das ist das Kernproblem von „Stunden der Entscheidung“: Die Entscheidung ist alternativlos – wie Merkel sagen würde – und die Entscheidung wird nicht hinterfragt und Merkels Gegner wirken, wenn sie fiktiv zu Wort kommen, wie Deppen aus einem Kinderfilm. Etwas, was geschehen muss, wird wohl geschehen und geschieht dann auch: Das trägt bestenfalls einen 90 Sekunden langen Werbespot, aber eben nicht einen 90 minütigen Doku-Spielfilm.

So überrascht dann eine Erklärung des Produzenten Walid Nakschbandi wenig, die das ZDF veröffentlicht. Denn er schwärmt regelrecht von Merkel: „Viele vermissen eine solche Haltung in einer Zeit, in der Entscheidungen scheinbar eher die Angst vor den nächsten Wahlen und den möglichen Stimmenverlust widerspiegeln als eine Vision für ein Land.“ Dass sie immer noch Kanzlerin ist? Geschenkt. „Stunden der Entscheidung“ ist nicht die Gelegenheit, Merkel zu hinterfragen – aber es liefert schöne Bilder.

Das ZDF zeigt „Stunden der Entscheidung“ am Mittwoch, 4. September, ab 20.15 Uhr.