An dieser Stelle kommt das andere Ende der Leine zu Wort: der Don. Ich sitze an der Kreuzung und warte – der Dicke braucht wieder Ewigkeiten, um hinterher zu kommen. Die anderen Hunde im Park toben an mir vorbei. Die Frage steht im Raum: Wieso wartest Du auf den, komm mit uns? Das denke ich mir auch. Doch selbst so ein Mensch hat ja seinen Wert.

Der Dicke sitzt wieder an dieser langweiligen Maschine. Sie riecht nach nichts, macht nur selten Geräusche und wenn, dann keine spannenden. Ich verstehe nicht, wieso er Ewigkeiten vor dem Teil verbringt. Unterdessen liege ich auf der Ecke der Couch, die Nahe der Balkontür ist. Draußen scheint die Sonne, aber ich gehe nicht Gassi und gegessen habe ich auch noch nicht. Da frage ich mich schon: Warum mache ich das alles?

Warum warte ich auf den Dicken draußen? Komme sogar, wenn er nach mir ruft? Liege abends auf der Couch neben ihm, wenn er platt ist. Höre zu wenn er redet – was mitunter wirklich ein Opfer ist. Und mache mir so meine Sorgen, wenn er im dritten Stock anfängt zu keuschen oder wenn er mal wieder einen Humpelfuß hat und eigentlich nicht mit mir spazieren gehen kann.

Dann denke ich mir: Wäre ich ohne ihn nicht besser dran? Vielleicht eine Familie zulegen, könnt ich mir. So eine mit Kindern. Oder vielleicht es wieder ganz alleine versuchen. Zu essen gibt mir immer jemand was und ich könnte viel länger Gassi gehen – und Störungen gäbe es auch nicht mehr.

Warum lass‘ ich ihn nicht zurück?

Was hat so ein Mensch für einen Wert für mich? Warum widme ich ihm mein Leben? Warum lass‘ ich ihn nicht einfach zurück, wenn er mir nicht mehr ansatzweise hinterher humpeln kann?

Nun, da gibt es praktische Erwägungen: Der Dicke weiß, wie man Dosen öffnet. Er kennt sowohl den Weg zum Fressnapf als auch den zum Schorsch. Auch kann er Türen öffnen. Und ich gebe es zu: Auf der Straße hat er eine bessere Übersicht als ich, wann man rübergehen kann oder wann eher nicht.

Aber reicht das? Rechtfertigt das all das Essen, das er verbraucht? Viel mehr, als ich bekomme. Dann die Rechnungen für Ärzte, Fitnessstudios oder Kleidung… Wie überflüssig. Fitness kann er auch von mir bekommen. Und hör mir auf mit Kleidung! Ich erinnere mich noch gut an den Versuch des Dicken, mir im Winter einen Mantel anzuziehen. Mach das bloß nicht wieder, Alter!

Das Praktische ist nicht der Wert des Menschen. Ich könnte jetzt die Fehler des Dicken aufzählen. Aber dann wäre das Internet voll und andere wollen das ja auch noch benutzen, um Bilder von ihrem Essen zu zeigen oder zu erklären, warum Merkel eine schlechte Kanzlerin ist.

Der Dicke ist der, der zurückkommt

Aber der Dicke ist der, der zurückgekommen ist. In Bosnien bin ich in einem Käfig gelandet. Das war furchtbar. Ich kam nicht raus, nicht einmal zum Pfeifen. Aber ich will nicht über die Menschen klagen, die mir das angetan haben. Es gibt ja auch die, die mich da rausgeholt haben.

Doch dann begann eine weitere schwierige Zeit. Ich kam auf Pflegestationen, wurde vermittelt, wurde wieder zurückgebracht… Ständig war ich woanders. Immer wieder musste ich mich neu gewöhnen. Bis es dann wieder weiterging.

So war das beim Dicken auch. Mal kam ich ins Nachbarbüro für ein paar Stunden, dann habe ich wieder bei Eva übernachtet oder habe ein Zeit lang im Saarland verbracht. Mal mit dem Dicken, mal ohne ihn.

Doch der Dicke war der, der zurückgekommen ist. Immer. So ist er zu einer Konstante geworden. Die Sicherheit, die es gibt, wenn alles unsicher scheint: Wenn es draußen donnert oder wenn an Silvester die Verrückten Raketen in den Himmel schießen. Wenn ich beim Tierarzt warte und höre, wie andere Hunde gegen ihre Operation ankämpfen. Oder wenn es mir schlecht ergeht und ich mich die ganze Nacht übergeben muss. Dann ist der Dicke da – und das hilft mir, da durch zu kommen.

Auch wenn er mir viel zu viel wegfrisst, Platz auf der Couch verbraucht oder nachts Fernsehen schaut, wenn ich viel lieber in Ruhe schlafen würde. Ich werde mich wohl doch nicht vom Dicken trennen. Das mag manchen verwundern. Aber er hat seinen Wert für mich.

Diese Folge der Kolumne ist inspiriert von einem Facebook-Beitrag von Tanja Rothmeier.

Der Dicke und ich, ich im Vordergrund. Selfie: Der Don

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